Dr. Brigitte Kaul

Thomas Grochowiak –
Bilder wie Musik und Reisebilder

Als ich Thomas Grochowiak, den Maler und ehemaligen Direktor der Recklinghäuser Museen im Sommer 1986 in Kuppenheim besuchte, empfing mich ein Künstler, der sichtlich erleichtert war, über Kunst und nicht über ihr Umfeld reden zu können oder zu müssen. Auf meine einleitende Frage, ob das Ausscheiden aus dem Museumsdirektorat eine Zäsur für den Künstler mit sich gebracht hätte, erhielt ich eine eindeutige Antwort: »Es ist tatsächlich eine große Zäsur dadurch erfolgt, dass die kontinuierliche Arbeit im Museum längst passé ist und damit die sehr starke Belastung der Ruhrfestspiel-Ausstellungen und seit einigen Wochen die Knochenarbeit des Vorsitzenden des Deutschen Künstlerbundes weggerückt ist und auch die Funktionen in sehr vielen Ausschüssen, die mich dauernd unterwegs sein ließen. Ich habe nur noch ganz wenige Ausschüsse und bin dabei, auch die abzubauen. Das ist eine segensreiche Sache, denn seit ich wieder im Atelier stehe, belästigt mich jeder Wunsch, Gutachten zu schreiben oder Ausstellungen zu eröffnen. Zum Beispiel liegt eine Bitte nach einem Vorwort für einen Ausstellungskatalog vor, die ich abgelehnt habe, nicht weil ich nicht gern über den Künstler schreiben würde, sondern weil mich das in meiner künstlerischen Arbeit total ablenkt und stört. Die geistige Arbeit, die nicht der weißen Fläche und dem Bild gilt, ist eine totale Störung und – das fiel mir in Rom wie Schuppen von den Augen – weg von allen diesen Dingen, lieber in Vergessenheit geraten als Ausstellungslöwe oder Kunstpapst oder was man mir so anhängt. Lieber ganz still hier arbeiten – Kunst hat Priorität. Das ist von einer unglaublichen Segensreichheit, und dem strebe ich vollkommen nach.«

»Knochenarbeit« hat Thomas Grochowiak wahrlich geleistet und das nicht nur im Deutschen Künstlerbund. Sein Name ist in die Annalen der Kunst- und Museumsgeschichte eingegangen, ist hier so festverankert, dass kaum die Gefahr besteht, dass Thomas Grochowiak jemals »in Vergessenheit gerät«. Wer sich ernsthaft mit der Kunstszene – auch der internationalen – beschäftigt, wird an Grochowiak nicht vorbeikommen. Doch hier soll vom Künstler und seinen Werken die Rede sein.

Nach einem Rundgang durch Grochowiaks Privatmuseum – auf liebenswerte Schätze aus allen künstlerischen Bereichen trifft man, sieht sie zum ersten Mal – gings ins Sommeratelier. Hier arbeitet er bevorzugt, was kein Wunder ist, wenn man das inspirierende Ambiente kennt. Ein Gartenhäuschen, offen, was die fehlenden Seitenwände, geschlossen, was die Überdachung betrifft. Ideale Lichtverhältnisse. An der einzigen Wand steht ein Regal, das die Tuschen beherbergt: ein ausstellungsreifes Objekt.

Die unterschiedlichste Form und Farbe faszinierte. Dann gibt es einen Tisch, auf dem die Pinsel liegen. Doch »liegen« ist nicht das richtige Wort. Sie sind angeordnet, arrangiert: Pinsel aus Japan und China, einzigartig zusammengebunden, für europäische Augen ein kühnes Handwerkszeug. Auf einer Industriepalette, die Grochowiak mit Erlaubnis des Besitzers vom Nachbargrundstück »geklaut« hat, befindet sich das Malbrett. Auch dies ein Kunstwerk für sich, das der Phantasie keine Grenzen setzt. Wir kommen zwangsläufig auf Grochowiaks Papier zu sprechen, und bei diesem Stichwort ist er nicht mehr zu bremsen. Marke »Fabriano«, in Italien hergestellt und nur von dort in bester Qualität beziehbar. Ich muss meine haptischen Sinne einsetzen, das Abenteuer, ein solches Papier in den Händen zu haben, nachvollziehen. Und im Atelier steht ein Kassettenrecorder, so dass Thomas Grochowiak auch hier nicht auf seine geliebte, inspirierende Musik verzichten muss.

Da sind wir schon beim Thema »Musik«, also in medias res. Eine weitere Überraschung erwartet mich. Ich dachte, dass er sich beim Malen unmittelbar von der Musik anregen ließe wie viele Künstler. Von Kandinsky beispielsweise wird gesagt, bzw. sagte er es selbst, dass synästhetische Impulse von der Musik ausgingen, die sich direkt in seiner Farbwahl niederschlugen. Anders bei Thomas Grochowiak: »Ich kann nicht beim Hören der Musik malen, denn ich weiß nicht, mit welcher Überraschung die Komposition aufwartet. Wie oft kommt ein anderer Rhythmus hinein. Das wäre im Verlauf des Bildermalens eine Unmöglichkeit. Aber wenn ich zum Beispiel Debussy gehört habe, dann wird ein Bild wie Debussy, da gibt es verschiedene Sätze: Andante, Allegro ..., das Gesamthören ergibt einen Niederschlag. Das Klangerlebnis ist für mich eine Stimulanz.« Malen aus der Erinnerung an ein musikalisches Erlebnis, das ist es, was Thomas Grochowiak fasziniert und das Thema: »Das Schwere schwebend zu machen.« Auch Debussys Andantepassagen haftet etwas Schweres an, das Grochowiak durchaus im Sinne des Impressionisten umzusetzen weiß. Wenn er von Bach sagt: »Thema Gegenthema«, meint er auch seine Kunst, die auf diesem Prinzip aufbaut – doch nicht allein darauf. Wir sprechen über Künstler-Kollegen, deren Arbeitsweise, deren Methode, Bilder »zu bauen«. Thomas Grochowiak sieht Parallelen, jedoch andere Inspirationsquellen. »Ich glaube von meinen Bildern sagen zu können, dass sie auch Bauwerke sind, die aber Geheimarchitekturen sind. Wir haben es beim Betrachten gemerkt. Die Bilder sind von vier Seiten zu sehen, mehr oder weniger direkt, so dass man sich nicht mehr entscheiden kann, welches ist oben und unten, von wo aus habe ich sie gemalt, wo ist der Ausgangspunkt? Durch spätere Prozesse, die sich nicht voraussehen lassen, wird es auf einmal ein anderes Bild. Es kann ein anderes Unten passieren, und in Glücksfällen hat es vier Unten. Mit anderen Worten: diese Bilder sind Bild-Architektur.«

Und diese Bilder warten noch mit vielen anderen Überraschungen auf. Zum einen haben sie eine Rückseite, die, durchaus ausstellungsreif, rein vom Zufall geprägt ist. Der Fluss der Tusche auf der Vorderseite – von Grochowiak (un-)bewusst technisch manipuliert – hinterlässt seine durchsickernden, selbständigen Spuren, die ein auch farblich gänzlich anderes Architekturgefüge ergeben. Vielleicht ist der Name Piranesi etwas zu weit hergeholt, aber dennoch assoziieren Grochowiaks Bild-Rückseiten Ruinenmalereien des Italieners. Und mit dem 18. Jahrhundert verbindet Grochowiak eine geistige Verwandtschaft, die in all seinen Kompositionen zu spüren ist. Zum anderen – Thomas Grochowiak wird mir vielleicht widersprechen – sind seine Bilder heiterer geworden, farbenfreudiger, noch leichter, transparenter, noch schwebender. Man merkt es ihnen an, dass sie nicht von Dienstreisen als Museumsdirektor, sondern von Künstlerreisen inspiriert worden sind: so von einem längeren Romaufenthalt in der Villa Massimo und nach zahlreichen Spanienreisen. Ein Künstler sieht anders, nimmt anders auf als ein Museumsmensch, der von Ausstellungssorgen geplagt ist. Die jüngsten Bilder haben einen mediterranen Charakter bekommen, sind sorgloser, trotz schwarzer Akkorde. Zu den Reisebildern gehört auch ein Werkkomplex, der durch Grochowiaks Chinareise beeinflusst worden ist. Die kalligraphischen Zeichen an Plakatwänden und Häuserwänden übten ihren magischen Einfluss aus, und ferner spielt hier die der fernöstlichen Philosophie innewohnende Idee von der »Betonung des Spontanen, des Nicht-Rationalen und des Intuitiven« eine wesentliche Rolle. Was verwundert, ist, dass Grochowiaks Zeichen für den Eingeweihten tatsächlich lesbar sind. Sie sind Symbole für real Existierendes.

Thomas Grochowiak war lange Jahre, der Not gehorchend, »Nachtarbeiter«, der im Keller der Kunsthalle mit seiner giftigen Farbe hantierte. Auf meine Frage nach dieser Schaffensphase kommt ein erleichtertes: »Nein, nachts arbeite ich gar nicht mehr. Das muss ich auch nicht, denn ich habe jetzt den Tag zur Verfügung und das Tageslicht. Alle Bilder sind Tagesbilder! ... Ihr Entstehungsprozess wird nicht unterbrochen, dann nehme ich lieber den Arger in Kauf, eine Verabredung nicht einzuhalten. Ein Bild muss al prima fertig sein. Es gibt kein Nachtarbeiten, das würde man sofort den Bildern anmerken, weil die Transparenz nicht mehr da ist und weil dieselben Möglichkeiten des Dirigierens von Bildfluss und Stagnieren nicht mehr da sind. Das Bild hätte nicht mehr die Frische, hätte auch nicht mehr diese kirchenfensterhafte Transparenz.«

Von eben dieser Transparenz – bei Grochowiak schon Thema für sich – ist oft in Zusammenhang mit den Ergebnissen der legendären Tunisreise von Klee, Macke und Moilliet die Rede. Obwohl formal und inhaltlich keinerlei Parallelen zwischen Grochowiak und diesem Malerfreundeskreis bestehen, last sich doch sagen, dass sie das Problem »Farbe – Licht, durchlichtete Farbe« miteinander verbindet. Robert Delaunay, dem die drei Freunde viel verdanken, schrieb: »Im Verlauf des Impressionismus wurde in der Malerei das Licht entdeckt, das aus der Tiefe der Empfindung erfasste Licht als Farben-Organismus aus komplementären Werten, aus zwei Paar sich ergänzenden Maßen, aus Kontrasten auf mehreren Seiten zugleich. Man gelangte so über das zufällig Nahe liegende hinaus zu einer universalen Wirklichkeit von größter Tiefenwirkung.«

Auch wenn es bei Grochowiak nicht primär um komplementäre Farbwirkungen geht, so kommt es ihm doch auf Raumbildung an, die sich wiederum aus seinen informellen Farbformen ergibt: ein Davor und ein Dahinter, ein beständiges Wechselspiel wie das zwischen Reisen und Musik. Um diese beiden Pole dreht sich nunmehr sein Leben als Künstler, und, welch ein Wunder, wenn es Grochowiaks Bilder nicht offenbarten.

Aus dem Katalog:
Thomas Grochowiak
REFLEXIONEN
Bilder wie Musik und Reisebilder
Städtische Kunsthalle Recklinghausen
2. November–30. November 1986